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25.September 1998 Möglichkeiten und Grenzen des privaten Opferschutzes
"Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll. Ich fürchte meine Tochter wurde mißbraucht." Dann berichtet die betroffene Mutter, daß ihr ihre Tochter letzte Woche von den Verbrechen erzählt hat. Sie hat sich vor einem halben Jahr von ihrem Mann getrennt, nachdem es in der Ehe viele Auseinandersetzungen gegeben hatte. Gelegentlich war es auch zu körperlicher Gewalt gekommen. So beginnt häufig der erste Kontakt Betroffener zu uns. Unser Verein "Opfer gegen Gewalt" beschäftigt sich mit Opferschutz und Verbrechensverhütung im Bereich der Gewaltkriminalität. Gewalt an Kindern (körperliche Gewalt, sexualisierte Gewalt, psychische Gewalt) macht den Großteil unserer Arbeit aus: Die Täter kommen meist aus dem sozialen Umfeld des Opfers. Sie inszenieren eine Situation, die es dem Kind unmöglich macht, darüber zu sprechen (Stichworte: "Schweigegebot", Geheimhaltung, Bedrohung, Erniedrigung) und damit dem Täter ein "Unentdecktbleiben" sichern. Diese Verbrechen wiederholen sich meist über einen längeren Zeitraum. Besonders schwierig ist die Situation, wenn der Täter aus dem engsten Familienkreis (meist Vater oder Stiefvater) kommt. Diese Problematik wurde im Rahmen dieser Veranstaltung ausführlich erörtert. Daneben haben wir Kontakt zu Eltern, deren Kinder ermordet wurden. Im Vordergrund steht hier der Schmerz über den qualvollen Tod der Kinder aber auch die Verzweiflung der Betroffenen über den Umgang der Gesellschaft mit Gewalt; d. h. meist haben die Täter eine einschlägige Karriere als Gewaltverbrecher hinter sich, die meisten Tötungsdelikte wären bei konsequenter effektiver Strafverfolgung vermeidbar. Gleichzeitig können sich die Betroffenen mit der Tatsache, daß der Mörder ihres Kindes nach Verbüßung einer Haftzeit wieder frei sein wird, nicht abfinden. Vor diesem Hintergrund hat unsere Arbeit im privaten Opferschutz zwei Schwerpunkte: die individuelle Hilfe für die Opfer und ihre Angehörigen das öffentliche Eintreten für die Belange der Opfer 1. Die individuelle Hilfe für die Opfer und ihre Angehörigen Als Leitfaden möchte ich die Rechtsanwältin Frau Marion Zech, die sich auf Opferschutz und Nebenklage spezialisiert hat, zitieren: "Opfer müssen so stark sein, daß die Täter Angst haben, Täter zu werden". Opferschutz beinhaltet für uns folgende Elemente: Beratung, Aufklärung, Unterstützung und Vermittlung von Hilfen anderer Institutionen. Der Inhalt der Beratung und Aufklärung richtet sich nach der Situation des Opfers. Wenn noch keine Anzeige erfolgt ist, wird die Beratung immer darauf hinwirken, Anzeige zu erstatten, 1. um weitere Verbrechen zu vermeiden. Selbst wenn das Opfer in Sicherheit ist, besteht immer eine sehr große Wahrscheinlichkeit, daß sich der Täter anderweitig ein Opfer sucht. Betroffene haben hier eine sehr großeVerantwortung gegenüber der Allgemeinheit. 2. um das eigene passive "Opfersein" aufzugeben. Die Anzeige kann ein erster Schritt sein, sich gegen Gewalt zu wehren, aktiv zu werden. Gerade wenn Mißbrauch im engsten Familienkreis vorliegt, kann es für das kindliche Opfer befreiend sein, die Strukturen, die diese Gewalt ermöglichten, zu durchbrechen und eine klare Schuldzuweisung an den Täter durch das Gericht zu erfahren. Voraussetzung hierfür ist: Das Opfer und seine Vertrauensperson müssen über Anzeige, Ermittlungsverfahren und Prozeß aufgeklärt werden, müssen wissen, was zu erwarten ist und müssen sich der Unterstützung sicher sein. Das mittelbare Opfer Vor allem bei Gewalt an Kindern haben wir es oft auch mit mittelbaren Opfern zu tun. Es sind meist die Eltern, nahe Angehörige oder auch Bekannte, die das Kind lieben und von dem Kind geliebt werden. Diese Betroffenen müssen als Opfer anerkannt werden. Sie leiden unendlich darunter, was dem Kind angetan wurde und sind häufig selbst traumatisiert. Gleichzeitig belasten sie Schuldgefühle und/oder Versagensängste, weil sie in Verantwortung für dieses junge Leben die Tat(en) nicht verhindert haben. Hinzu kommt die Erwartungshaltung der Umwelt, vor allem an männliche mittelbare Opfer, gekennzeichnet durch völlig irreale Handlungsvorschläge: "Wenn das mein Kind gewesen wäre, ich würde den Mörder töten". Solche und ähnliche Redensarten werden vor allem an Väter ermordeter Kinder herangetragen. Der Schmerz über das Verbrechen an einem Kind ist so überwältigend, daß für derart unzulängliche Rachegedanken, die vor allem nicht zu realisieren sind, kein Raum ist. Gleichzeitig müssen diese mittelbaren Opfer häufig die geschädigten kindlichen Opfer wieder "auf den Weg bringen". Sie sind selbst verletzt, müssen aber für das Kind eine Stütze sein. Die Einbeziehung des Umfeldes des Kindes in die Opferschutzarbeit, vor allem der Mutter, wirkt sich nach meiner Erfahrung immer stabilisierend auf das Kind aus. Unser Ziel ist es, daß das Opfer gestärkt aus dem Verfahren hervorgeht. Wir müssen darauf hinwirken, daß das Opfer nicht vor Gericht noch einmal Opfer wird. Zur Verdeutlichung möchte ich hier das Beispiel einer ermittlungsrichterlichen Vernehmung anführen: Die 9jährige Maria sollte verhört werden. Wir trafen uns im Gericht; wir, d. h. die Mutter und Schwester des Kindes, seine Rechtsanwältin Frau Marion Zech und ich. Das Mädchen war sehr aufgeregt, hatte Angst. Als sie Frau Zech fragte, ob die Mutter mit zum Verhör gehen dürfe, sagte sie: "Du bist der Boss. Wir machen das so, wie du es willst. Du mußt immer sagen, wenn dir was nicht paßt. Merke dir, Du bist hier der Boss". Maria entschied sich für den "großen Hofstaat" - wir sollten alle mit zur Vernehmung. Wir betraten den Sitzungssaal und der Richter wies Maria einen Platz in seiner Nähe am Richtertisch zu. Wir saßen im Zuhörerraum. Das Kind fühlte sich unwohl, so allein an diesem großen Tisch. Ich konnte nicht verstehen, warum Frau Zech sich nicht zu ihr setzte. Nach ein paar Minuten wandte sich Maria Frau Zech zu und sagte: "Kannst du dich nicht zu mir setzen?" Frau Zech antwortete: "Du weißt doch, du bist der Boss. Wenn du willst, daß ich da sitze, dann wird das so gemacht". Mit diesem kleinen Trick versuchte Frau RA Zech, nicht nur den Kindern die Strapazen des Verfahrens zu erleichtern, sondern sie erreichte, daß das kindliche Opfer seine Wünsche äußert und nicht "es geschehen läßt". Das kindliche Opfer muß während eines Verfahrens immer sicher sein können, daß seine Bedürfnisse und Ängste ernst genommen werden. Betrachtet man die Konzepte privater Opferschutzvereine, so stellt man fest, daß die psychosoziale Betreuung der Opfer im Vordergrund steht. Dies trifft meiner Meinung nach nicht den Kern der Opferschutzproblematik. Wir erleben, daß Opfer zunächst die Art und Weise wie Strafverfolgungsbehörden mit der Tat, dem Beschuldigten, dem Opfer umgehen, nicht verstehen können. Sie fühlen sich nicht ernst genommen. Häufig hören wir teilweise durchaus berechtigte Vorwürfe, wenn der Beschuldigte weiterhin in Freiheit lebt. Oft werden die Opfer bedroht, haben Angst, fühlen sich nicht geschützt; auf alle Fälle fühlen sie sich nicht gerecht behandelt. So müssen beispielsweise Täter sofort über ihre Rechte belehrt werden, während für die Opfer nur die Aushändigung eines Merkblattes vorgesehen ist. Deshalb haben wir den Schwerpunkt der Beratung auf die Rechtsberatung durch qualifizierte Anwälte gelegt. Die umfassende Aufklärung des Opfers über das Strafverfahren, über seine Rechte ist der erste Schritt, der Ohnmacht, der Hilflosigkeit der Opfersituation entgegenzutreten. Nach meiner Erfahrung müssen Kinder frühzeitig informiert werden, sie müssen wissen, was mit ihnen passiert und das Umfeld muß beraten, informiert und unterstützt werden. Je mehr das Umfeld eines betroffenen Kindes gestärkt wird, desto besser kann das Kind das Verfahren durchstehen. Dies wirkt sich positiv auf die Aussage und damit die Beweiskraft der kindlichen Zeugenaussage aus. Unterstützung heißt für uns also, daß wir Ansprechpartner sind, daß wir Hilfestellung im Umgang mit Behörden leisten und daß wir als Gerichtsbegleitung zur Verfügung stehen. Neben der Rechtsberatung ist in der Regel eine Beratung durch die Polizei zu empfehlen. Wir haben in München ein Kommissariat für Opferschutz und an allen Polizeipräsidien in Bayern eine Beratungsstelle für Frauen und Kinder. Die Polizei hat beispielsweise andere Informationen über den Täter und kann seine Gefährlichkeit besser einschätzen. Gleichzeitig habe ich die Erfahrung gemacht, daß vor allem Kinder die behördliche Unterstützung durch die Polizei sehr positiv aufnehmen. Darüber hinaus informieren wir Betroffene über das Opferentschädigungsgesetz (OEG). Im VdK (Verband der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Rentner Deutschland) haben wir einen kompetenten Partner gefunden, wenn es gilt, Ansprüche der Opfer nach dem OEG durchzusetzen oder soziale Leistungen nötig sind, weil die Familie in Not geraten ist. Wir haben zu diesem Zweck auch Verbindungen zu privaten Stiftungen, die hier finanzielle Hilfen geben. Ein weiterer wichtiger Beratungsinhalt ist die Aufklärung über mögliche therapeutische Maßnahmen. Häufig helfen wir auf der Suche nach einem geeigneten Therapieplatz. Da wir die notwendigen Leistungen (Therapie, Rechtsberatung) nicht selbst wahrnehmen können, kommt der Kontaktaufnahme zu staatlichen und privaten Institutionen eine große Bedeutung zu. Die beispielsweise vielerorts übliche Weitervermittlung an einen beliebigen Rechtsanwalt reicht nicht aus. Die Nebenklage wird von Juristen noch als Stiefkind behandelt. Die Anwaltskammern haben teilweise Listen mit Anwälten aufgestellt, die bereit sind, Nebenklagen zu übernehmen. Gerade für kindliche Opfer brauchen wir Anwälte, die hinter dem Opfer stehen. Kürzlich erzählte mir eine Staatsanwältin, sie hätte in einem Verfahren erlebt, daß das betroffene Kind 8 Stunden verhört wurde: "Wäre kein Nebenklagevertreter anwesend gewesen, hätte ich einschreiten können, so aber waren mir die Hände gebunden. Die Nebenklagevertreterin hat nicht Muh und nicht Mäh gesagt." Zudem kontrollieren wir wie auch andere Opferhilfeorganisationen (z. B. Opferhilfe Limburg) die von uns vermittelten Kontakte und berücksichtigen diese Erfahrungen in der Beratung.
Unser Konzept Grundsätzlich sollte die Arbeit im Opferschutz von professionellen Mitarbeitern geleistet werden. Zum einen weil hier qualifizierte Mitarbeiter gebraucht werden, zum anderen muß die Arbeit im Opferschutz für das Opfer selbstverständlich sein. Das Opfer hat einen Anspruch auf Opferschutz. Dieser Anspruch ist auch im Gewaltmonopol des Staates begründet. Der Staat muß alles tun, Verbrechen zu verhindern. Kommt es doch zum Verbrechen, so muß er alles tun, den Schaden so gering wie möglich zu halten. Aus finanziellen Gründen arbeiten wir hauptsächlich mit ehrenamtlichen Mitarbeitern. Diese ehrenamtlichen Mitarbeiter werden zu folgenden Themenschwerpunkten geschult: Strafrecht, Familienrecht, Opferentschädigungsgesetz, Posttraumatische Belastungsstörung, Kindsmißbrauch und seine Folgen. Die Schulungen werden von professionellen Fachkräften durchgeführt. Gleichzeitig bieten wir für die Opfer eine kostenlose Rechtsberatung in unseren Geschäftsräumen durch Rechtsanwälte an. Hinzu kommt die Vermittlung von Hilfen anderer Institutionen. So verwenden wir viel Zeit und Mühe, mit anderen geeigneten privaten, kirchlichen und staatlichen Hilfseinrichtungen Kontakte zu knüpfen. Mit diesem Konzept einer Mischung aus ehrenamtlicher und professioneller Opferhilfe versuchen wir, mit unseren beschränkten finanziellen Mitteln der Problematik der Opfersituation gerecht zu werden.
Das öffentliche Eintreten für die Belange der Opfer ist wesentlicher Bestandteil der Opferarbeit. Wir haben als private Organisation keinen Dienstweg und keine Vorgesetzten - wir sind nur dem Opfer verantwortlich. Gleichzeitig können wir alle Entscheidungsträger direkt erreichen. Für Opfer ist es wichtig, daß ihr Schmerzensschrei nicht ungehört verhallt, daß die Gesellschaft die Mißstände zur Kenntnis nimmt und daß Konsequenzen gezogen werden. Nichts ist für ein Opfer schlimmer als hinnehmen zu müssen, daß das an ihnen begangene Verbrechen einfach als selbstverständlich akzeptiert wird. Ich spreche hier vor allem die Problematik der Wiederholungstäter im Bereich der Sexualdelikte an. An den Opfern wurde nicht nur ein Verbrechen begangen, vielmehr fühlen sie sich häufig als Kanonenfutter für fehlgeschlagene Resozialisierungsmaßnahmen. Die Opfer waren sozusagen das Risiko, das eine Politik, die auf Resozialisierung setzt, zwangsläufig mit sich bringt, ein Risiko, das sie nicht bereit waren zu tragen. Opfer erwarten von der Gesellschaft, daß sie alles tut, solchen Verbrechen entgegenzuwirken. Wir müssen den Schmerz öffentlich machen. Wenn uns vorgeworfen wird, wir würden gegen Täter argumentieren, so können wir das nur mit Unverständnis zur Kenntnis nehmen. Wir argumentieren immer für die Opfer. Es liegt in der Natur der Sache, daß hier zwei Rechte konkurrieren. Einerseits das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit, andererseits die Freiheitsrechte von Verbrechern - soweit diese überhaupt existieren. Der Staat muß entscheiden, wo er die Prioritäten setzt. Unsere Forderungen zu Prävention und Opferschutz bei Gewaltverbrechen an Kindern. Forderungen an die Justiz Opferanwalt für Opfer schwerer gefährlicher Körperverletzung sowie für Angehörige von Mordopfern. Durch das 1. Opferschutzgesetz vom 18.12.1986 wurde dem Opfer im Rahmen der Nebenklage eine umfassende Beteiligungsbefugnis am Strafverfahren verschafft. Die damit verbundenen Rechte des Opfers können nur mit einem Anwalt wahrgenommen werden (z. B. Akteneinsicht). Das Prozeßkostenrisiko darf bei schweren Gewaltdelikten nicht dem Opfer auferlegt werden. Die Schaffung eines Opferanwalts für direkte Opfer von Sexualstraftaten reicht allein nicht aus. Erhöhung der Strafrahmen bei Gewaltdelikten. Die Reform des Sexualstrafrechtes betrachten wir als einen Schritt in die richtige Richtung, kann aber den Forderungen des Opferschutzes nicht ausreichend gerecht werden. Das Strafrecht ist die einzige Möglichkeit Regeln des menschlichen Zusammenlebens durchzusetzen. Das kann aber nur funktionieren, wenn die Haftzeiten der Schwere der Schuld angemessen sind. Dies ist nach unserer Auffassung nicht der Fall. Für Opfer ist die Höhe der Haftzeit ein Maßstab für den Wert, den der Staat dem Leben beimißt, und für die Ächtung der Gesellschaft von Täter und Tat. Dementsprechend sind die Strafrahmen bei Straftaten gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit anzuheben. Lebenslänglich muß tatsächlich lebenslänglich sein, denn ein Mörder hat seinen Platz in der Gesellschaft verwirkt. Die Praxis zeigt, daß in den Fällen, in denen Kinder Opfer von schwerem Mißbrauch waren, Haftzeiten von mindestens 10 bis 15 Jahren nötig wären. Das ist die Zeit, die ein Kind braucht, um wieder als einigermaßen stabile Persönlichkeit im Leben zu stehen. Wir erleben leider in der Praxis häufig, daß Kinder nach ca. 3 Jahren von der Entlassung des Täters erfahren und mit dieser Situation überhaupt nicht zurecht kommen. Sie haben Angst und fallen häufig in ihre alten Verhaltensstörungen zurück. Zum Schutz dieser kindlichen Opfer wäre ein Zeitraum von mindestens 10 bis 15 Jahren nötig, um dem Kind die nötige Sicherheit zu geben. Eine vorherige mögliche Konfrontation mit dem Täter ist nicht zu verantworten. Auch die Strafrahmen im Jugendstrafrecht sind anzuheben. Den schweren Gewaltdelikten von Jugendlichen wird das Jugendstrafrecht nicht mehr gerecht. Angehörige eines von Jugendlichen ermordeten Kindes können mit den möglichen Sanktionen des Jugendstrafrechts nicht leben. Es ist auch nicht einzusehen, warum nicht auch im Jugendstrafrecht die Möglichkeit einer Sicherungsverwahrung bei Wiederholungstätern möglich sein soll. Der Erziehungsgedanke bliebe davon unberührt, aber aus Gründen des Schutzes der Bevölkerung, vor allem hier von Kindern und Jugendlichen (jugendliche Täter suchen sich meist ein jugendliches oder kindliches Opfer), ist dies unumgänglich. In unserem Strafgesetz herrscht der Sühne- und Resozialisierungsgedanke. Die Sicherheit der Menschen vor weiteren Verbrechen muß aber oberste Priorität haben. Zulässigkeit der Nebenklage im Jugendstrafrecht. Es ist für uns nicht einsehbar, warum sich ein jugendlicher Täter während des Prozesses nicht mit dem Opfer und der Tat auseinandersetzen soll. Wir halten dies sehr wohl für eine erzieherische Maßnahme. Des weiteren ist zu bedenken, daß sich jugendliche Täter meist jugendliche Opfer aussuchen. Diese sind im Prozeß nicht geschützt, haben nicht einmal die Rechte eines Nebenklägers. Anwendung des Jugendstrafrechts für Heranwachsende nur in Ausnahmefällen. Das Jugendstrafrecht ist für Heranwachsende (18 bis 21 Jahre), die bereits eine einschlägige Karriere hinter sich haben und schwerste Gewaltverbrechen begehen, nicht mehr geeignet. Herabsetzung der Altersgrenze der Strafverantwortlichkeit Inzwischen werden auch von 12jährigen schwere Gewaltverbrechen begangen. Soll das Jugendstrafrecht mit seinen erzieherischen Maßnahmen greifen, so sollten diese möglichst früh einsetzen. Dem Opfer gegenüber ist es nicht zu verantworten, daß ein derartiger Täter nach schwersten Delikten mit keinerlei Sanktionen rechnen muß. Grundsätzlich wäre es auch nach der derzeitigen Gesetzeslage möglich, geeignete Maßnahmen durch Behörden (Jugendamt und Vormundschaftsgericht) einzuleiten. Leider zeigt aber die Praxis, daß vor allem die Jugendämter hier oft keine verläßliche Arbeit leisten. Datenschutz darf nicht zum Täterschutz werden Einschlägige Gesetze sollen Bürger vor dem Mißbrauch von Daten schützen und die indiviuellen Freiheitsrechte sichern. Dies darf aber nicht auf Kosten gleichwertiger Grundrechte wie das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit geschehen. Kein Umgangsrecht bei "begründetem" Verdacht auf Mißbrauch Wir erleben, daß trotz eines starken Verdachts auf Mißbrauch die Beweislage eine Verurteilung des Täters oft nicht zuläßt, weil im Strafrecht immer im Zweifel für den Angeklagten entschieden werden muß. Häufig ist dies beispielsweise bei sehr jungen kindlichen Opfern der Fall. Dies darf aber auf keinen Fall dazu führen, daß im Rahmen eines Familiengerichtsverfahrens, in dem das Sorge- und Umgangsrecht geregelt werden soll, das betroffene Kind einem mißbrauchenden Vater zugeführt wird. Hier muß in dubio pro Kind entschieden werden, wobei die Sicherheit des Kindes vor weiteren Übergriffen oberste Priorität haben muß. In unserer Praxis beurteilen wir die betreffenden Fälle nach folgenden Kriterien: Beurteilung der Aussage des Opfers (nach Hörensagen) Verhaltensauffälligkeiten des kindlichen Opfers Beurteilung der Aussage der Vertrauensperson des Kindes, in der Regel ist dies die Mutter Einbeziehung weiterer Zeugen (Ärzte, Bekannte, Verwandte) Lebensumstände des Kindes Vorgeschichte des "Täters" Bei gleichzeitiger Zusammenarbeit mit anderen, am konkreten Fall beteiligten Institutionen (Stichwort "Vernetzung" s. u.) ist es unserer Ansicht nach sehr gut möglich, Mißbrauch und Mißbrauch mit dem Mißbrauch zu unterscheiden. Diese Zusammenarbeit kann aber nur dann effizient sein, wenn jeder Beteiligte das nötige Fachwissen und die nötige Sensibilität gegenüber der kindlichen Opfersituation mitbringt. Derzeit wird diese Voraussetzung von staatlicher Seite nur von der Polizei zuverlässig erfüllt. Beispielsweise wird der Wunsch der Kinder, mit dem mißbrauchenden Vater Kontakt aufzunehmen, häufig fälschlicherweise dahingehend interpretiert, daß der Kontakt zum Vater für das Wohl des Kindes unerläßlich ist. Auch das normale Verhalten des Kindes während eines bewachten Umgangs darf nicht als Indikator für "Mißbrauch oder kein Mißbrauch" gewertet werden. Das Ambivalenzverhalten der Kinder, ihre Konflikte vor allem bei elterlichen Tätern sind bekannt. Die Kinder nicht von Tätern zu trennen heißt, sie mit ihren Konflikten allein zu lassen und weitere Übergriffe in Kauf zu nehmen. Unser Ministerpräsident Herr Dr. Edmund Stoiber sprach von Nulltoleranz gegenüber Gewalt. Das muß auch hier und vor allem hier bei kindlichen Opfern gelten. Ein weiterer häufiger Fehler besteht darin, daß Täter vielerorts unterschätzt werden. Sie haben eine ausgeprägte Fähigkeit, auf ihre Opfer einzugehen und Wünsche und Bedürfnisse ihrer Opfer geschickt für ihre Zwecke zu nutzen. Außerdem sind sie meist in der Lage, Erwartungen, welche die Umwelt an sie setzt, schnell zu erfassen und prompt zu agieren. Gleichzeitig fehlt ihnen meist jegliches Unrechtsbewußtsein. Den Lügendetektor bei Familiengerichten zuzulassen, um die Unschuld eines Täters zu belegen, lehnen wir ab. Zum einen ist es nicht Aufgabe des Familiengerichts, über Schuld oder Unschuld zu entscheiden, sondern Regelungen des Sorge-/Umgangsrechts zum Wohle des Kindes zu finden. Zum anderen haben wir wiederholt erlebt, daß ein Täter, der als Täter bei eindeutiger Beweislage auch verurteilt wurde, den Test mit Bravur bestanden hat. Wenn dieser Test bei Familiengerichten zugelassen wird, straft man das betroffene Kind Lügen, schlimmer noch, man gibt ihm nicht einmal die Möglichkeit, seine Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen. Die Konsequenzen brauche ich nicht zu beschreiben. Forderungen an die Sozialpolitik Jugendämter müssen Fälle von Gewalt an Kindern zur Anzeige bringen. Zum einen kann nur so konsequent weiteren Verbrechen entgegengewirkt werden und zum anderen erlebe ich immer wieder, daß Kinder eine gute behördliche Reaktion erwarten, wenn die Taten, die an ihnen begangen wurden, aufgedeckt wurden. Die Anzeige und die Reaktion des Staates auf begangenes Unrecht kann für den weiteren Lebensweg der Opfer von existentieller Bedeutung sein. Kinder leiden, gerade dann wenn der Täter dem engsten Familienkreis angehört, unter einem enormen Loyalitätskonflikt. Schließlich ist der Vater ihre Welt, sie lieben ihn und wollen von ihm geliebt werden. Die Kinder haben häufig massive Schuldgefühle. Kinder nehmen es positiv auf, wenn sie im Rahmen der Strafverfolgung über das Unrecht des Täters aufgeklärt werden, wenn eine eindeutige Schuldzuweisung erfolgt. Dies bestätigen auch die vielen Anfragen von erwachsenen Frauen, die nach Jahren noch hoffen, den Mißbrauch, den sie als Kind erlitten haben, anzeigen zu können. So kann ich den Slogan der Polizei "Nicht Anzeigen schützt nur die Täter" nur unterstützen. Im Bereich Kindsmißbrauch wird in Fachkreisen eine Dunkelziffer von weit über 90% vermutet. Dies ist angesichts der Schwere des Delikts, der Gefährlichkeit der Täter, der Gefährdung des hohen Rechtsgutes "Körperliche Unversehrtheit " sowie der schwerwiegenden Folgen für die Opfer nicht tragbar und unserer Ansicht nach rechtsstaatlich bedenklich. Die Sicherheit der betroffenen Kinder und weiterer potentieller Opfer ist ohne Anzeige der Straftaten nicht zu gewährleisten. Jeder der mit der Problematik "Beweissicherung und Opferschutz bei Kindsmißbrauch" vertraut ist, weiß um die Bedeutung des ersten behördlichen Kontakts der Betroffenen. Hier werden die Weichen für das Verfahren gestellt. So kann verspätete oder falsche Ermittlungsarbeit wertvolle Beweise vernichten oder strafrechtlich unbrauchbar machen. Die Mitarbeiter der Jugendämter müssen geschult werden. Wie die Ausführungen zur individuellen Opferhilfe zeigen, setzt ein konsequentes Anzeigeverhalten durch die Jugendämter eine entsprechende fachliche Qualifikation voraus. Wir brauchen zumindest in den Städten mindestens einen Jugendamtsmitarbeiter, der sich auf das Thema Gewalt an Kindern spezialisiert hat, der mit der Opfersituation vertraut ist, über Möglichkeiten der Opferhilfe und über das Strafverfahren kompetent aufklären und beraten kann. Darüber hinaus müssen mittelbare Angehörige von kindlichen Opfern bei Bedarf in die Beratung, Aufklärung und das Erarbeiten von Hilfsangeboten einbezogen werden. Die Zusammenarbeit, der an einem Fall beteiligten Institutionen muß verbessert werden. Behörden wie Staatsanwaltschaft, Jugendamt, Polizei sowie private Institutionen müssen in jedem konkreten Fall zusammenarbeiten. Die Zusammenarbeit der Jugendämter mit anderen Hilfseinrichtungen soll zwar verstärkt werden, in unserer täglichen Praxis gestaltet sich aber diese Zusammenarbeit häufig schwierig. Sie ist aber Voraussetzung für eine unter wirtschaftlichen und sozialen Aspekten effiziente Hilfe. Soziale Betreuung in Fällen von Familiengewalt Frauen, die oft über lange Zeiträume Opfer familiärer Gewalt waren, sind meist durch diese Situation völlig verunsichert, orientierungslos, ohne jegliches Selbstwertgefühl. Sie können oft aus eigener Kraft die unerträgliche Situation nicht mehr beenden. Häufig geraten diese Frauen durch finanzielle Probleme in zusätzliche Abhängigkeiten. Wir brauchen hier soziale Betreuung, Aufklärung, Information, um so eine Chance für das Opfer zur Veränderung der unerträglichen Situation zu schaffen. Gleichzeitig sollten die Täter verstärkt in erzieherische Maßnahmen beispielsweise Therapieauflagen eingebunden werden. Bußgelder sind hier nicht geeignet, da die ganze Familie davon betroffen ist. Sollen die Maßnahmen greifen sind sie langfristig anzulegen. Nach Erfahrungsberichten von Frauenhäusern sind kurzfristige Interventionen nicht geeignet, hier Abhilfe zu schaffen. Automatische Anerkennung bestimmter Opfergruppen nach dem OEG ohne Einzelnachweis
Beispiele: Eltern ermordeter Kinder sollten im ersten Jahr ohne Einzelnachweis eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 % erhalten. Danach sollte eine stufenweise Verminderung geregelt werden.
Kinder und Jugendliche die über einen längeren Zeitraum Opfer schweren Mißbrauchs waren sollten über 10 Jahre eine MdE von 30 % gewährt werden.
Grenzen von privatem Opferschutz
Keine private Ermittlung Die Wormser Prozesse zeigen die Folgen, die private Ermittlungen haben können (hier haben Laien durch Eigenermittlungen wie beispielsweise pädagogische Aufdeckungsgespräche mit Kindern Straftaten ermittelt, die nie stattgefunden haben). Durch dilettantische Ermittlungen können Beweise vernichtet werden. Werden Bilder, Videos Kleidungsstücke etc. nicht sachgemäß von den Ermittlungsbehörden gesichert, so besteht die Gefahr, daß sie als Beweis verlorengehen oder vor Gericht unbrauchbar sind. 2. Keine Beeinflussung Angehörige von kindlichen Opfern sind darüber aufzuklären, die Aussagen der Kinder über den Tathergang und den Täter nicht mit ihnen zu besprechen oder gar die Kinder zu beeinflussen. Wenn hier Fehler gemacht werden, kann die Aussage als Beweismittel unbrauchbar und vielleicht der einzige Beweis gegen den Täters zunichte sein. 3. Keine Alleingänge Prinzipiell sollten alle an einem Fall Beteiligten (Behörden und Private) kooperierend zusammenzuarbeiten. In der Bundesrepublik ist dies nur begrenzt möglich (Datenschutz). Trotzdem sollten alle Möglichkeiten der Kooperation genutzt werden. Die Kooperation zu anderen Institutionen ist aber auch im Hinblick auf die Weitervermittlung des individuellen Opfers von Bedeutung. Gabriele Karl-Linderer
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